Die Annaberger Krankheit

Hexenfieber im Erzgebirge

Annaberg war eine krisengeschüttelte Stadt, als sich im Frühjahr 1713 dort äußerst seltsame Krankheitserscheinungen ausbreiteten. Vor allem Jugendliche und junge Frauen wurden von Krampfanfällen ergriffen und berichteten von dämonischen Anfechtungen, oder modern gesprochen: Halluzinationen. Geheimnisvolle Unbekannte, Hexen, Kobolde, ja gar der Teufel höchstpersönlich erschienen, nur ihnen sichtbar, und kündigten diese Anfälle an. Ihre Seelen zu verschreiben sollten sie durch diese Krankheit genötigt werden. Auch zwangen diese Gestalten die Betroffenen zum stundenlangen Schlagen von Purzelbäumen, im Dialekt des Erzgebirges “Bockstürzen” genannt.

Die Krankheitssymptome entsprachen weitgehend dem, was man sich unter Besessenheit vorstellte, und wurden immer wunderlicher. Junge Frauen erbrachen Nadeln, seltsame Stimmen waren aus ihnen zu hören, ein Arzt operierte gar ein unbekanntes “Tier” aus einer seiner Patientinnen, das er später in einem verschlossenen Glas präsentierte. Kein Wunder also, dass bald weithin Zauberei als Ursache der Krankheit vermutet wurde. Der Rat der Stadt, damals quasi für die Polizei zuständig, zog dementsprechend eine Reihe von Verdächtigen aus dem Verkehr, auch um ihnen Gelegenheit zu einer Stellungnahme einzuräumen. Wir haben es hier mit den letzten Hexenprozessen in Sachsen zu tun. Sie endeten für mehrere Beteiligte tödlich – nicht durch Verurteilung, sondern wegen der grässlichen Haftbedingungen.

Die “Annaberger Krankheit”, wie man das sonderbare Geschehen bald weithin nannte, dauerte sieben Jahre. Ebenso lang stritten Ärzte und Geistliche, ob die Krankheit nicht doch ganz natürlich erklärbar sei, denn der Glaube an Hexerei war damals bereits unter den Gebildeten im protestantischen Norden Deutschlands ziemlich verpönt. Um die zeitweise rund 20 betroffenen Patienten selbst wurde es insofern allmählich ruhiger, als dass die meisten nach und nach genasen. Der Streit indessen tobte mit unverminderter Härte weiter, bis die letztverbliebene Patientin, aus der zuvor die Leibärzte Augusts des Starken hunderte vorgeblich in sie hineingezauberte Nadeln herausoperiert hatten, zu einem Betrugsgeständnis genötigt wurde.

Nachdem ich die Annaberger Krankheit entdeckt hatte, war ich von den kunterbunten Spektakel selbst verzaubert. Die Streitereien der Zeitgenossen brachten eine Unmenge von Pamphleten hervor, die zusammen mit dem erhaltenen Aktenmaterial, zeitgenössischen Chroniken usw. außergewöhnlich detaillierte Einblicke in die Geschehnisse ermöglichen – man kann förmlich einzelne Akteure kennen lernen und eine Stadt vor 300 Jahren, die daneben durchaus auch noch einen normalen Alltag hatte, durchstreifen. Nach 12jähriger Erforschung schrieb ich eine Doktorarbeit über das Thema, die allerdings eher Materialsammlung als lesbare Darstellung ist. Eine besser verdauliche Bearbeitung steht noch auf meiner To-do-Liste.

 

Wissenschaftlicher Aufsatz zur Annaberger Krankheit (pdf)